Ozean der Einsamkeit

Empfindsamkeit, Einsamkeit
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Irgendwann wurde ich einfach fallen gelassen, ausgesetzt mitten auf dem Meer, auf dem riesigen, unendlichen Ozean. Sie dachten sich nichts dabei, es war ja so normal. Sie glaubten, ich würde schwimmen, aber das lernte ich erst viel später. Ich versank einfach.

Es war lustig, den Blubberblasen meines Atems zuzusehen, wie sie nach oben an die Oberfläche tanzten. Und es war lustig, ihnen zuzuhören, wenn sie mit einem niedlichen "Plopp" zerplatzten.

Ich war ein genügsames Kind, und so hatte ich meinen Spaß und meine Freude daran, mit den Luftblasen meines eigenen Atems zu spielen und ihnen zuzusehen, wie sie so lustig nach oben stiegen und eine nach der anderen zerplatzten.

Immer mal wieder kam es vor, dass ich mich an dem vielen Wasser verschluckte und hustete, hustete, hustete. Meine Mutter ging dann mit mir zum Arzt. Der sagte: " Das Kind hat nix, es ist kerngesund, alles nur Anstellerei." Also gingen wir wieder heim. Das Wasser blieb - der Husten auch.

Und so sank ich tiefer und tiefer, bis ich den Grund des Ozeans erreichte. Schwer lasteten die Wassermassen auf mir. Als erstes bekam ich Ohrenschmerzen durch den starken Druck. Anschließend wurde ich faul. Es war einfach so mühsam, mich zu bewegen mit dem ganzen Ozean über mir. Schwer lasteten die unendlichen Wassermassen auf mir.

Aber ich war ein genügsames Kind. Ich hustete, hatte Ohrenschmerzen, die Last der Wassermassen drückte mich nieder, ich ließ mich als faul beschimpfen, obwohl ich doch gar nicht anders konnte, und ich genoss es, mit all dem zu spielen, was ich auf dem Meeresboden fand: Muschen, Krebse, ganze Wälder aus Wasserpflanzen, Steine, Abfall, Reste von Ruinen und vieles mehr.

Ich sprach auch mit den Fischen, die in Schwärmen von großer Farbenpracht an mir vorbei zogen oder auch mal einzeln aus ihren Verstecken hervor schnellten, um ihre Beute zu fangen. Ich sprach mit ihnen, und sie hörten mir zu - aber Fische sind stumm, sie antworteten nicht. Und so lernte ich zwar, mit der Sprache zu spielen, mich auszudrücken, aber meine Fähigkeit zuzuhören verkümmerte immer mehr. Ich bekam einfach keine Antwort.

Je tiefer ich nach unten sank, umso verschwommener wurde das, was ich von der Wasseroberfläche noch wahrnehmen konnte. Je mehr ich Wasser zwischen mir und der Welt war, umso schlechter konnte ich sehen.

"Das Kind braucht eine Brille", stellte der Arzt fest. Also bekam ich eine Brille, konnte wieder sehen - aber das Wasser blieb.

Ich war ein genügsames Kind. Ich spielte im Meer alleine, weit weg und unerreichbar für alle, die an der Oberfläche blieben. Es war so normal, dass ich alleine dort war, ich kannte ja nichts anderes. Die Fische kamen, und sie gingen, sie hörten mir zu, und sie trugen das Gehörte mit sich fort. So vergingen die Tage - einer nach dem anderen.

Eines Tages machte ich wohl einen Fehltritt. Der sichere Boden unter meinen Füßen gab nach, und ich fing wieder an zu sinken. Ich sank und sank - tiefer und tiefer - die Last über mir wurde fast unerträglich, und langsam wurde es schwarz um mich her: die Tiefsee hatte mich verschlungen. Hier gab es keine bunten Fische mehr, nur Schwärze und Nacht. Kein Lichtstrahl mehr reichte in diese Tiefen hinab. Fast keiner.

Es dauerte lange, bis ich mich in dieser Schwärze zurecht fand und auch den winzigsten Lichteinfall zur Orientierung nutzen konnte. Auch hier unten gab es Lebewesen, die schwarz wie die Nacht und die Tiefsee waren. Wofür sollten sie sich auch schmücken? Wer sollte sie hier unten je sehen in all ihrer Schönheit? Also waren sie alle schwarz, schwarz wie die Nacht - und auch ich sah nichts mehr, fast nichts mehr. Da ich sie kaum sehen konnte, lernte ich, sie zu fühlen, zu erahnen, wo sie waren, sie zu berühren und mich von ihnen berühren zu lassen.

Manchen taten mir weh, aber auch mit ihnen lernte ich so umzugehen, dass sie mich nicht mehr verletzen konnten. Ich richtete mich darauf ein, hier unten zu bleiben in der ewigen Finsternis. Wer sollte mich je hier unten finden? Wer käme je auf die Idee, mich überhaupt erst mal hier zu vermuten und zu suchen? Wer wäre je bereit, sich so weit in die dunklen Tiefen des Ozeans zu wagen, um mich an die Hand und mit hinauf an die Oberfläche zu nehmen? Wer wäre mutig genug, hinabzutauchen in diese erdrückenden Tiefen? Wem wäre ich es überhaupt wert?

Die Antwort war so klar wie das klarste Wasser: niemand und niemals.

Als mir klar wurde, wie weit ich gesunken war und wie absolut unerreichbar ich für den Rest der Welt geworden war, weinte ich bittere Tränen. Niemand sah sie. Niemand hörte sie. Wie hätte man sie auch abwischen sollen? Unbemerkt von aller Welt vermischten sie sich mit dem salzigen Wasser des Meeres um mich herum. Nur der Salzgehalt des Meeres stieg um eine unbedeutende Winzigkeit.

Und wie ich so saß auf dem tiefsten Meeresgrunde und mir bald die Augen aus dem Leibe weinte, da kam auf einmal ein Rochen zu mir und umspannte mich mit seinen Riesenflügeln. Zum ersten Male in meinem Leben fühlte ich mich geborgen, geborgen in der Liebe eines Fisches, dessen Herz ich rührte, der mich in der tiefsten Tiefe gefunden hatte und wie ein Engel schützend seine Flügel über mir ausbreitete.

Der Rochen lehrte mich das Schwimmen, zuerst die Freude daran, die Freude, auf seinem mächtigen Rücken durch die Fluten zu gleiten, so leicht und so frei wie ein Vogel in der Luft. Und dann zeigte er mir, was ich selber tun kann, um auch alleine so leicht und so frei durch die Fluten zu schwimmen, zeigte mir, wie ich Höhe und Tiefe selber regulieren kann und wie ich mich in der Tiefe und Schwärze des Wassers orientieren kann. Es machte mir viel Freude, dies alles zu lernen und auszuprobieren - mit und ohne meinen Lehrer, der mich immer und überall fand.

Eines Tages, als ich mich schon sehr sicher fühlte, kam ich auf die Idee, den Felsvorsprung zu suchen, von dem ich vor vielen, vielen Jahren in die tiefsten Tiefen der Dunkelheit abgestürzt war. Das helle Licht dort blendete mich, als ich ihn endlich fand. Vorsichtig landete ich auf ihm und betrachtete voller Staunen die Farbenpracht der Fische, der Muscheln und von allem, was ich dort fand.

Hier also war das Paradies meiner Kindheit gewesen, in dem ich so viel gespielt und mit den Fischen geredet hatte. Hier in dieser Farbenpracht war ich glücklich gewesen und hatte so sorglos in den Tag gelebt ...

Hier also richtete ich mich wieder ein. Hier war es schön, hier gefiel es mir. Von hier aus wollte ich mich aufmachen, die Welt zu erobern. Den Druck von früher spürte ich nicht mehr, war der in der Dunkelheit in den tiefsten Tiefen des Ozeans doch um ein Vielfaches stärker gewesen. Nein, ich fühlte mich leicht und frei und voller Energie und Tatendrang, wusste gar nicht, wohin damit.

Und nun, nachdem ich zurück gekehrt war an den Ort meiner Kindheit, hatte ich ja noch eine Dimension dazu gewonnen: ich konnte fliegen und mich jederzeit vom Boden abheben oder auch meinen Freunden in der Tiefe einen Besuch abstatten. Ich war glücklich darüber, mich nun frei in meinem Element, dem Wasser, bewegen zu können.

Ich richtete mich also darauf ein, den Rest meines Lebens in dieser Beschaulichkeit zu verbringen, machte es mir gemütlich, genoss die Tage, das Licht und die Farben. Ich war ein genügsames Kind gewesen, und auch als Erwachsene war ich nun rundum zufrieden. Es war so normal, ich kannte ja nichts anderes.

Wohl wünschte ich mir manchmal, auch wie die Fische zu solch einem Schwarm dazuzugehören - aber das verging immer schnell wieder, es war ja auch niemand hier, der zu meiner Art gehört hätte. Die Menschen, wozu ich ja gehörte, lebten weit weg und unerreichbar an der Oberfläche irgendwo, drangen hin und wieder dumpf zu mir hindurch, aber ich konnte mit dem, was sie sagten immer weniger anfangen, hatte es doch so gar keinen Bezug zu dem, was ich erlebte und erfuhr. Also blieb es bei einer vagen Ahnung, dass mir etwas fehlte, was ich nicht benennen konnte. Ich war ein genügsames Kind gewesen - und was man nie gekannt hat, vermisst man eben dann auch nicht wirklich. Nur eine kleine Sehnsucht blieb.

Eines Tages dann kam der Rochen wieder - ich hatte ihn schon länger nicht gesehen, und seitdem ich selber durch die Wogen fliegen konnte, auch nicht so wirklich vermisst. Nun war er also wieder da und bedeutete mir, mitzukommen. "Bist du bereit?",drückte sein Blick aus. Ich nickte, und wir tollten gemeinsam im Wasser umher.

Das aber war nicht der alleinige Grund seines Besuches, wie sich bald herausstellte: er brachte mich zu einer Gruppe Delfine, die sich meiner annehmen wollten - schließlich war ich ein Land- und kein Meerestier - verabschiedete sich von mir und versprach mir, immer wiederzukommen, mich zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen. Dankbar für alles, was er für mich getan hatte, ein wenig traurig aber auch in neugieriger Erwartung auf das Kommende, ließ ich ihn ziehen.

Ein neues Leben wartete auf mich, eines, das ich ja nun überhaupt nicht kannte.

Die Delfine nahmen mich sehr freundlich in ihrer Mitte auf, aber um wirklich dazuzugehören, musste ich erst mal eins lernen: atmen, gute Luft zu atmen.

Ein neues Leben begann, und ich musste lernen, lernen, lernen. Die selbstverständlichsten Dinge kannte ich nicht und musste sie lernen, lernen, lernen.

Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich auch eine Sprache, die Sprache der Delfine, die zwar nicht die meine war, aber in der ich endlich eine Antwort erhielt. Nie vorher hatte jemand wirklich mit mir geredet, niemals Dinge erzählt, die wirklich wichtig waren, und so musste ich auch erst mal das Hören und Zuhören lernen.

Nichts von all dem konnte ich, was ich als Erwachsene eigentlich hätte können müssen - woher auch? Es war ja nie jemand da gewesen ... , doch meine Lehrer hatten eine Engelsgeduld mit mir. Nicht umsonst heißt eine Gruppe Delfine "Schule". Bei ihnen ging ich in die Schule des Lebens und gehörte zum ersten Male wirklich dazu. Ich war sehr glücklich mit ihnen.

Aber ich war kein Delfin, war letzten Endes eben doch keiner von ihnen, und so kam der Rochen wieder, um mir mitzuteilen - ohne Worte - dass meine Lehrzeit bei den Delfinen nun beendet sei und ich mich bereit machen solle auf meinen Weg nach oben zurück zu den Menschen, die mich einst in meiner frühesten Kindheit ausgesetzt und vergessen hatten im unendlichen Meer der Einsamkeit.

Es wurde ein langer Abschied, ein herzlicher Abschied mit vielen guten Wünschen für die Zukunft auf der Erde, auf dem Lande, und mit dem Versprechen auch weiterhin in Kontakt zu bleiben. Mit einem weinenden und einem lachenden Auge stieg ich an einem sonnigen Morgen mit klopfendem Herzen und banger Erwartung aus dem Wasser. Was würde mich hier erwarten? ....



Hier findet Ihr die Werke von Richard Bach, die - wie ich finde - sehr gut zum Thema passen. Der Klassiker "Die Möwe Jonathan" ist in einem ähnlichen Stil geschrieben wie meine Geschichte und sowohl für Erwachsene wie auch für Kinder geeignet.


Und zum Thema Gesundheit:




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