Es war das späte Mittelalter, und das menschenleere Fichtelgebirge lag wie ein dunkles Omen vor ihnen: Der Schneeberg mit weißem Kragen, der Ochsenkopf als stummer Wächter, dazwischen Fichten, die mit ihren Fingern in den Himmel griffen und das Wasser der Wolken als Tau auskämmten, um die Sümpfe feucht zu halten. Auf ihrer Reise nach Norden waren ihnen die Leute überall misstrauisch begegnet. Fremde Leute, Ausländer, mit einer fremdartig klingenden Sprache, die nach Schätzen suchten, und Löcher gruben um Steine zu sammeln.
Hier im Fichtelgebirge schien sich ihnen nur der unwegsame Wald entgegenzustellen mit zugewucherten Wegen, Sümpfen und Dornengestrüpp. Das Wetter trübe, als wolle es nie richtig Tag werden. Heute wissen wir, dass die ersten Zeichen der sogenannten
Kleinen Eiszeit über die Lande zogen, die jahrhundertelang nicht enden wollenden kühlen Regen und Trübnis brachte.
An ihrer Seite hielt wie immer ein Rabe Ausschau, schwarz wie geronnenes Tintenwasser, mit Augen, die blitzten wie Poliersteine. Sie nannten ihn Nachtfeder. Wenn der Wind durch die Kronen strich, schien es, als lausche auch der Vogel auf Stimmen, die kein sterblicher Mensch versteht. Mit einem Male reckte er den Hals, ließ sein krächzendes Omen aus der Tiefe steigen. Die Rutenträger nickten, als sprächen sie mit einem alten Bekannten.
Alle waren wie eine Familie. Man flüsterte am Abend Geschichten von früher. Ihre Wünschelruten waren aus Haselholz, gerundet und geölt, mit kleinen Einschnitten, die Namen trugen und Tage bedeuteten. Am Morgen besprach man die Rute mit alten Beschwörungsformeln, die sie schon von ihren Ahnen gelernt hatten. Alrik trug die kleinste Rute, er war ein Lehrling, noch nicht mehr als eine Handvoll Mut, die unter der Haut klopfte. Die Rute in seinen Händen zitterte, als sie den ersten feuchten Hohlweg betraten.
»Hörst du’s?« murmelte Greta, die Älteste, deren Augen die Farbe von nassem Schiefer hatten. »Die Erde flüstert. Nicht wie die Mägde am Brunnen, sondern wie eine alte Frau, die ihre Geschichten singt.«
Alrik lauschte. In der Brust war es, als schlüge eine Turmuhr. Sie pochte unruhig, als könnte sie jeden Moment stehenbleiben, die Rute antwortete mit einem Zucken. Sie gingen den Bach entlang, der aus dem Schoß des Berges kam, und die Rute bog sich sacht nach unten. Als sie an einer moosüberwachsenen Felsspalte hielten, legte Nachtfeder den Kopf schief, und seine Augen funkelten.
Die Rute zog! Nicht mehr sanft, sondern mit einer Bestimmtheit, die das Blut in Alriks Adern pulsieren ließ. Greta trat näher, legte die Fingerspitzen auf einen Stein und lauschte. »Kupfer«, flüsterte sie. »Und darunter — etwas Altes. Ein Blau, wie die Augen unseres Meeres, bevor es am Horizont verschwand. Vielleicht Kobalt, das geheimnisvolle graue Metall, aus dem die Venezianer Cobaltblau machen und damit ihr Kobaltglas blau färben.&lraquo;
Sie begannen zu graben, vorerst nicht mit Hämmern, Hacken und Schaufeln des Schmieds, sondern mit Händen und spitzen Eichenstangen, wie die Venediger es eben taten: Freundlich, als nähme man nur das, was der Berg freiwillig gäbe. Die Erde roch nach Eisen und Gewürzen, und je tiefer sie kamen, desto mehr war da das Gefühl, ein anderes Atmen zu berühren, das Atmen des Berges selbst.
Alles schrieben sie in kleine Büchlein: Den Weg hierher, beschrieben mittels unverrückbaren Zeichen wie großen Felsen, Flüssen und Hügeln, verschlüsselt in Zeichen, die kein anderer lesen konnte, nur die Eingeweihten. Später würden andere kommen, mit furchtlosen Helfern, Waffen und eisernen Werkzeugen.
Plötzlich war es nicht mehr nur die Rute, die sprach. Aus der Wand des Hohlraums löste sich ein leichter Nebel, und in ihm formten sich Gestalten, weiblich, schwebend, mit Haaren, die wie Staubfunken glänzten. Bergfrauen nannten die Alten sie, Hüterinnen der Erz-Adern, die nur den Menschen Einlass gewährten, die verstanden wie man zuhört. Sie sprachen nicht mit Worten, sie setzten Bilder in die Köpfe der Venediger.
Greta sah in ihrem Kopf, wie in einem anderen Leben ein Meer zurückwich und die ersten Kiesel verbrannten, wie Flüsse sich zurückzogen und Farben im Gestein freigaben. »Die Steine sind die Tränen der Welt«, sagte sie, als sie wieder zu sich kam. »Jeder Mineralschimmer ist ein Gedächtnis.«
Die Venediger boten ihre Bündel dar, ein Stück Brot, einen Tropfen Met, ein kleines Amulett aus Buchenholz. Die Gestalten neigten sich, als sei dies das heilige Maß der Dankbarkeit. Und die Adern im Gestein öffneten sich weiter, gaben her: Kupfer, das in der Luft sang, ein Streifen Grünerz, der in der Hand wie Lachen war, sphärische Kristalle, die das Licht in blassgoldene Strahlen brachen.
Doch das Gebirge und ihre Hüter geben niemals ohne Prüfung. Als sie weiterzogen, stießen sie auf einen Sumpf, der im Zwielicht wie ein matter Spiegel lag, ein Ort, an dem Raffsucht und falsche Schwüre sich verheddern konnten. Nachtfeder kreiste, stieß ein warnendes Krächzen aus. Dort, im Sumpf, sahen sie die Spuren von Menschenhänden und spürten, wie leicht ein suchender Fuß im Morast versank. Alrik dachte an Reichtum, an Prunk und an die Gesichter, die ihn erwarteten, wenn er mit Erz heimkehrte. Die Rute drehte sich, als fühlte sie sein Herz, und stupste ihn, als wolle sie sagen: »Nicht dies. Nicht so.«
Greta legte ihm die Hand auf die Schulter. »Die Berge brauchen Hüter, keine Horter«, sagte sie. »Was du findest, muss heilen, nicht fesseln. Teile, oder die Adern werden sich schließen.» Alrik senkte den Blick und roch den Moder der Sumpfblumen. Er verstand, dass seine Suche kein Wucher, sondern ein Pakt sein musste.
Am dritten Abend, als die Sterne wie verlorene Münzen am Himmel lagen, fanden sie etwas, das keinem Namen in den Chroniken entsprach: Einen Stein, nicht größer als eine Faust, der innen eine kleine Flamme trug. Kein Feuer, das verbrannte, sondern ein Licht, das erinnerte. Wenn man den Stein ans Ohr legte, hörte man Stimmen von Bergleuten, die einmal Bergwerke betrieben hatten. Lieder, die von Versöhnung mit der Erde sangen, von Kindern, die in einem Dorf spielten, dessen Dächer im Glanz der Kupferscheine lagen.
Greta nahm den Stein, und für einen Moment war ihr Gesicht so eben und weich wie das eines Kindes. »Das ist kein Gold«, flüsterte sie. »Es ist ein Wille. Wer ihn besitzt, trägt Verantwortung.»
Sie beschlossen, das gefundene Erz zur nächsten Siedlung zu bringen, nicht um es an Händler zu verkaufen und Schätze anzuhäufen, sondern um die Häuser zu stärken, aus Brunnen mit Kupfergefäßen zu schöpfen, die Wände vor Frost zu schützen, Werkzeuge zu schmieden, mit denen die Bauern das Land fruchtbar machten. Den Stein aber versteckten sie heimlich in der Kirchenkammer eines kleinen Marktes und schworen, dass er nur bei großer Not entnommen würde, als Erinnerung daran, dass die Gaben der Berge Achtsamkeit verlangen. Die Büchlein tauschten sie bei den Bauern gegen eine Wegzehrung. Sie sollten sie verqahren. Wer die geheimen Zeichen nicht kannte, konnte nichts damit anfangen.
Als sie heimkehrten, war der Rabe der erste, der das Dorf erreichte, und sein Krächzen kündete nicht von Erz, sondern von Geschichten, die man am Feuer erzählen konnte. Die Venediger erhielten Brot und Wein, alte Frauen strichen ihnen mit den Händen über die Stirn und Kinder lauschten ihren Erzählungen. Und Alrik? Er nahm die Rute, schnitzte in sie sein erstes Zeichen: eine Fichtenspitze und einen kleinen Raben. Er hatte gelernt, dass Suchen mehr bedeutet als Finden. Es ist ein Pakt mit dem Berg und mit den Menschen. Wenn er die Rute nahm, spürte er jene leise Uhr in seiner Brust, und wenn er in der Nacht aus dem Fenster sah, sah er am Himmel einen schwarzen Punkt, der wie ein Komma die Sterne unterbrach: Nachtfeder, der stille Zeuge.
So erzählen die Alten noch heute, wenn sich die Flamme im Herd zur Glut neigt und die Kinder dicht um den Tisch sitzen, von den Venedigern im Fichtelgebirge: Von Ruten, die nie lügen, von Raben, die sehen, von Bergen, die geben, wenn man ihren Namen mit Achtung spricht. Und wer einmal in einer stillen Nacht an einer Bergquelle lauscht, meint vielleicht, das leise Singen der Erz-Adern zu hören, das Gedächtnis der Erde, das sagt: »Nehmt, aber gebt auch zurück.«
Und die Menschen in den Jahrhunderten danach rätseln bis heute, was die geheimnisvollen Zeichen in den kleinen abgegriffenen Walenbüchlein oder Venedigerbüchlein bedeuten könnten. Und welche Bedeutung manche in Felsen gerizte Walenzeichen gehabt haben könnten, die langsam von Regen und Frost verwittert werden, wie der in den Granit geritzte Rinderkopf, der dem alten
Viechtelberg später den Namen
Ochsenkopf einbrachte.