Schatten-Gestalten aus dem Bergwerks-Stollen
Bis heute erzählt man den Kindern im Fichtelgebirge eine Geschichte als Warnung und Trost zugleich: Im Eisenbergwerk
Gleißinger Fels am Ochsenkopf bei Fichtelberg hatte man einst zu unvorsichtig und rücksichtslos gegraben, zu tief geschürft, nicht nur nach Eisen, sondern in das Adernetz der Welt selbst, auf der Suche nach Bodenschätzen und Reichtum. Die Männer mit den schweren Schlegeln und Meißeln dachten an Metalle, Kristalle und Edelsteine. Sie wussten nichts von den mystischen Mineral-Adern der Erdmutter Gaia, die in den Spalten des Granits liefen, und noch weniger von den Wesen, die tief in den Rissen lauern.
Eines Spätsommertages, als die Bergleute gerade ihre Arbeit beendeten und sich auf den Weg ans Tageslicht machen wollten, brach ein zischendes Geräusch aus einer neu freigelegten Spalte. Zuerst war es nur ein Knistern, wie wenn ein alter Baum seufzt. Dann kroch aus den dunklen Stollen etwas noch dunkleres heraus, kein Tier, kein Wind, sondern Schatten, die Form suchten. Im spärlichen Licht der Kienspäne und Öllampen sahen sie, dass sich Hände wie aus Ruß formten, Augen wie glühende Kohlen. Stimmen flüsterten alte Namen, die niemand mehr hätte nennen sollen. Die Arbeiter liefen davon, einige stürzten, einige warfen ihre Werkzeuge weg auf der Flucht. Wer stehen blieb, hörte nur noch ein Gelächter, das wie Geröll in eine Grube ohne Boden fiel. Niemand fand sie jemals wieder.
Auch die Dorfbewohner spürten es bald. Das Vieh war unruhig, Brunnen wurden trüb, eine Kälte, die nicht vom Wetter kam, machte sich breit und kroch von unten in die Häuser und den Menschen unter die Kleidung. Und in der späten Nacht, als der Vollmond niedrig über dem Ochsenkopf lag, sahen die Alten in ihren Träumen, wie die Schatten sich sammelten und über den Berghang zogen, hungrig nach Leben.
Doch die Welt hat mehr Hüter, als Dämonen wissen können. Aus den Auwäldern des Fichtelsee-Moores traten die Moorfeen, spärlich wie Tau, aber mit Augen so alt wie Quellen. Die Stein-Elfen schoben sich aus den Granitritzen, knorrig und hart, mit Stimmen, die wie rieselnde Kiesel klangen. Auch die Menschen rührten sich. Die alte Pfarrerin der kleinen Kirche, eine Frau mit rauer Stimme und festen Händen, suchte ein Gebet aus einem uralten Buch hervor. Ein Altknecht, der die überlieferten Lieder kannte, zupfte die Harfe und sang eine Melodie, welche die Steine selbst zu rufen schien. Selbst jene, die noch die Namen der alten Götter flüsterten, die man längst in Legenden verbannt hatte, kamen leise hervor und legten ihre Hand auf den Fels. Zwischen ihnen wuchs ein Bündnis, geboren aus Not und Respekt: Moor-Feen, Stein-Elfen, christliche Gebete und die alten Götter, die in den Hohlräumen des Ochsenkopfes schlummerten.
An der Quelle der Fichtelnaab hielten sie Rat, in einer Nacht, die vom Donner gezeichnet war. Lys, eine Moorfee mit Haaren wie nasses Gras, trat vor und sprach, ihre Stimme kaum ein Hauch. Hjal, ein Elf mit runenverzierten Händen legte einen Kreis aus Granitsteinen. Die Pfarrerin spritzte Weihwasser und sprach Worte, die wie Leim waren, uralte Worte, die verbanden. Und die alten Götter, die keiner mehr genau beim Namen rufen konnte, schickten Winde, welche die Asche der Opferstätten der Vorzeit mit sich trugen.
Das Ritual das sie feierten war kein Akt der Herrschaft, sondern der Güte. Die bösen Mächte sollten gebunden, und der Ort, aus dem sie kamen, verschlossen werden. Die Moor-Feen webten Nebel zu Schleiern und streuten Eisenglimmer aus dem Bergwerk hinein, die Stein-Elfen schnitten aus Granit schwere Stein-Siegel, Schmiede formten aus Hufeisen Kreuze aus Eisen und murmelten zusammen Gebete. Als das Bündnis seine Kraft zusammenführte, begann die Erde selbst zu singen, Töne, tief und langsam, als ob alte Spalten sich tatsächlich schließen.
Die alten Dämonen wehrten sich. Aus den Spalten schossen zischende Flammen, gestaltlose Körper, die nach Herzen tasteten. Ein erstes Aufbäumen ließ Steine bersten. Ein gewaltiger Wind wirbelte Wolken von Blättern durch die Luft. Die Pfarrerin hob ihre Stimme, die Flöte des Altknechts antwortete, und ein Chor aus feinem Gesang, wie Perlenschnüre, band die Flammen. Dann geschah, was niemand erwarten konnte: Die alten Götter erhoben sich in Gestalt von knorrigen Bäumen und Granit-Felsen, nicht als Herren, sondern als Hüter, und griffen die Schatten mit einem Klang an, der alte Namen rief, Namen der Achtsamkeit und des Ausgleichs.