Da erreichte ihre Ohren plötzlich ein lieblicher Klang. Es war, als streichelten Melodien die Luft. Das Mädchen folgte dem schönen Gesang und gelangte dabei an den Rand der alten Burgruine, von der man nur noch moosbewachsene Mauerreste sah. Dort blieb sie staunend stehen: Zwischen den Felsen tanzten winzige Gestalten im Morgenlicht.
Die Waldfeen hatten sich versammelt, um den Sonnenaufgang zu feiern. Als sie das Kind bemerkten, verstummten ihre flüsternden Lieder. Scheu und neugierig schauten sie hinter den Granitblöcken hervor. Doch keiner von ihnen wagte es sofort, zu dem Menschenkind zu treten. Das Mädchen spürte keine Angst, es hielt den Atem an und machte einen Schritt näher.
Da trat eine Elfe aus den Schatten. Sie hatte Haare wie goldene Sonnenstrahlen und ein Kleid aus Spinnweben und Blättern. Freundlich lächelnd winkte sie dem Kind zu. »Komm herein«, flüsterte sie leise. Ihre Stimme klang wie ein sanftes Lüftchen. »Fürchte dich nicht, wir sind Freunde des Waldes.« Das Menschenkind war überrascht, doch es erkannte, dass hier keine Gefahr lauerte, und setzte sich langsam auf einen glatten, von Moos bedeckten Stein.
Das Mädchen erzählte den Feen eine alten Legende, die sie aus Erzählungen kannte: »Es gab einst sagenhafte Reisende, die Venediger genannt wurden. Man sagte, sie seien Alchemisten und Schatzsucher aus fernen Ländern und hätten einst ein verwunschenes goldenes Erbe in diesen Bergen verborgen. Dieser Schatz war so schön, aber auch so mächtig und gefährlich, dass nie jemand wagte, ihn zu suchen. Bis heute blieb er verborgen. Die Waldfee nickte weise. »In der Tat«, sagte sie, »erzählt man sich, dass die Venediger in diesen Ruinen nach Gold und geheimnisvollen Tränken suchten und Rätsel hinterließen, um ihre Funde zu schützen.«
Felsformationen auf dem Rudolfstein im Fichtelgebirge
Das Mädchen und die Feen wurden Freunde und beschlossen, die Geheimnisse des Schatzes gemeinsam zu ergründen. Sie kletterten vorsichtig in die verfallenen Mauern und suchten nach verborgenen Gängen. Unter der warmen Morgensonne entdeckten sie in einem verwitterten Steinbogen ein altes, in den Felsen geritztes Zeichen. Es zeigte einen Fluss und einen Stern. »Das muss ein Hinweis der Venediger sein», sagte das Kind aufgeregt. Die Feen nickten zustimmend.
Auf ihrem weiteren Weg öffnete sich hinter ihnen ein versteckter Gang in der Felswand, den zuvor keiner gesehen hatte. Vielleicht war er vorher auch nicht da. In dem Gang glitzerte es schwach, als wären winzige Sterne in das Gestein eingewoben. Sie folgten dem Bergwerksstollen und kamen in eine kleine Kaverne. Im Schein ihrer Herzen sahen sie eine Truhe aus altem Holz, verziert mit silbernen Runen. War das der verborgene Schatz?
Das Mädchen wollte die Truhe öffnen, aber die Fee legte einen kleinen Finger auf den Deckel. »Warte!«, sagte sie, »Nicht nur der Reichtum soll uns leiten, sondern Freundschaft und Güte.«
So öffneten sie die Truhe gemeinsam. Zum Vorschein kamen darin keine Goldmünzen, sondern glühende Kristalle, die wie Herzenslicht strahlten, und Samen seltener Waldbäume. Die Venediger hatten ihren Schatz nicht als Gold aufbewahrt, sondern als Leben. Staunend berührte das Kind die Kristalle, und sofort erfüllte ein warmes, glückliches Gefühl die Herzen aller.
»Diese Magie soll den Wald beschützen«, flüsterte die leise hinzugetretene Feenkönigin. »Und jeder, der mit gutem Herzen hereinkommt, soll davon kosten.« Das Mädchen pflanzte die leuchtenden Samen am Fuß der Burgmauer. Der Boden trank sie begierig auf, und sofort sprossen winzige Triebe, die bald zu Bäumen heranwuchsen. Die Kristalle verschwanden langsam, aber ihre Wärme erfasste die Erde.
Als die Sonne hoch stand, begleiteten die Waldfeen das Kind hinaus aus der Höhle und aus dem Zauberhain. Sie gaben ihm ein kleines Geschenk mit auf den Weg: Einen silbernen Anhänger in Form eines Eichenblatts, der immer an die Freundschaft erinnern sollte. Das Kind versprach, den Wald und seine Geheimnisse zu schützen.
Es wird erzählt, dass der Rudolfstein bis heute von den Feen und Elfen behütet wird und dass das Menschenkind noch oft zurückkehrte, um im Glanz der Freundschaft zwischen Welt und Wald zu wandeln. Denn wer immer das Gute im Herzen trägt, findet auf dem Felsen sein magisches Glück.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute im Wald um den Rudolfstein, hüten den Berg und seine Schätze, und nur wer guten Herzens ist, kann sie manchmal sehen.
Der Rudolfstein im Fichtelgebirge
Feen, Elfen und Elben
Der Teufelstisch auf dem Waldstein im Fichtelgebirge