Adrenalin. Aufspringen, Anschreien. »Was willst du? Wer bist du? Hau ab!«.
Er weicht zurück, geht auf Distanz.
»Ich bin der Tobi, wir haben letztes Jahr mal kurz miteinander gesprochen. Entschuldige! Hast du Probleme?«
»Nein warum? Lass mich in Ruhe!«
»Du hast einen Schatten auf deiner Aura.«
»Natürlich hab ich einen Schatten, hast du keinen?
Und meine Aura hab ich nicht dabei!«
Er lächelt und setzt sich etwas entfernt ins Gras, trotz des Körpergewichts erstaunlich leicht.
»Erzähl mir, was dich bedrückt!«
Aus irgend einem unerfindlichen Grund erzählt sie ihm die Geschichte, die sie eigentlich vergessen wollte. Würde er sie in den Arm nehmen und trösten? Sie wünscht es sich irgendwie. Seltsam.
»Hast du das Gefühl, die Sache ist jetzt zu Ende? Abgeschlossen?«
Stimmt, das Gefühl hat sie irgendwie
nicht.
»Man darf solche Erlebnisse nicht wegschieben. Sie gehören zu einem. Sie haben eine Bedeutung! Wollen wir einen Kaffee trinken?«
Im Café am See sind mehr Leute als sie gedacht hätte. Da ist es schattig und angenehm kühl, und sie fragt sich plötzlich, warum sie sich vorhin in die größte Mittagshitze gelegt hat. Hat sie einen Sonnenstich? Erst jetzt, wo der Sonnenschein angenehmer wird, kommen mehr Badegäste auf die Liegewiesen. Er redet von Schatten auf ihrem Energiekörper und von der Erdmutter Gaia …
»Hey, meine Welt ist die Realität, Kausalität. Ich steh mit zwei Beinen auf dem Boden und hab mit Esoterik nichts am Hut.«
»Das sagtest du letztes Jahr schon, aber vielleicht ist genau das das Problem. Wir sind nicht nur Körper und Gehirne, die funktionieren. Es gibt mehr, als man bewusst wahrnimmt. Du hast da eine Leere, und unbewusst möchtest du sie füllen. Manchmal muss man ein bisschen nachhelfen.«
Eigentlich will sie nicht, aber sie hört ihm zu. Und erstaunlicherweise fühlt sie sich verblüffend wohl dabei. Keine Spur von schlechtem Gefühl oder Misstrauen. Ist das nicht genau der Trick von manchen Leuten, vertrauenswürdiges Auftreten, einlullen in schwammige pseudowissenschaftliche Formulierungen, um dann den Menschen das Geld aus den Taschen zu ziehen oder sie in eine Falle zu locken?
Sie bezahlt ihren Kaffee und will seinen mitbezahlen. »Welchen anderen Kaffee?« fragt die Bedienung.
Sie macht einen Spaziergang am Ufer entlang und kann irgendwie garnicht aufhören. In Gedanken versunken hat sie den ganzen See umrundet, vier Kilometer. Die Leere füllen mit dem Bewusstsein, ein Teil der Welt zu sein, das heißt, die Welt ist auch ein Teil von mir. Ich nehme sie an. Geborgenheit als Teil der Welt.
Nicht danach fragen, ob es real ist, sondern ob es mir gut tut.
Es annehmen. Vielleicht geschehen manche Dinge deshalb, weil ich sie brauche. Nur das verändern, was nicht guttut. Gesunder Egoismus.
Fällt mir das gerade ein, oder hat
er das vorhin gesagt? Ist das nicht eigentlich egal? Wo ist mein Handy? Ach ja, das liegt seit Tagen zu Hause rum. Sonst hatte sie bei fünf Minuten ohne Handy schon das Gefühl, nackt rumzulaufen. Was haben wir für einen Wochentag? Wie lange habe ich noch Urlaub? Wie stellt man das fest, ohne Handy? Was habe ich heute schon gegessen? Was esse ich auf Abend? Total unwichtige Fragen, komisch.
Am nächsten Tag weckt sie die Hausbesitzerin: »Hat es Ihnen bei uns gefallen? Werden Sie nächstes Jahr wiederkommen?« Aha, mein Urlaub ist aus. Daheim fragt die Freundin sie »Was hast du denn im Urlaub alles unternommen?« Wie kann man nur so unwichtige Fragen stellen! »Ich hab mich erholt.«
»Du wirkst so anders, entspannt.«
»Das will ich doch hoffen!«
Die frühe Fahrt zur Arbeit fällt ihr viel leichter. Die Arbeit selbst auch, und die Kollegen sind viel freundlicher. Am Abend die Freunde, sie freuen sich alle, sie zu sehen. Einer schaut sie immer wieder an …
Nächstes Jahr werde ich bestimmt wieder hinfahren. Vielleicht treffe ich
ihn ja auch wieder. Vielleicht gibt's noch was zu ‐ verändern!
Gefangen unterm Himmel